Raum für Alle
Adrian Sauer, Raum für alle – Wohnung Thost 2, nach einer Fotografie von Erich Consemüller aus dem Jahr 1926, gefunden im Internet, 150 cm x 199 cm, Digitaler C-Print, Gerahmt, 2015
In Architekturen für das Wohnen manifestiert sich deutlicher als in öffentlichen Gebäuden die Zeit: Sie verändern sich im Gebrauch durch ihre wechselnden Bewohner; durch Aneignung und Abnutzung wird der Originalzustand einer Wohnung zur Fiktion. Das Wohnen steht im Mittelpunkt der Bauhaus-Architektur. Soviel wir über die Bauhaus-Wohnräume wissen, so wenig kennen wir sie jedoch. Die Idee einer musealen Konservierung von Räumen widerspricht auch inhaltlich dem Ziel des Bauhauses, das Leben möglichst vieler Menschen zu verändern. Obgleich baulich im Original vorhanden, sind die Bauhaus-Musterwohnungen angesichts der physischen Veränderungen an ihren Oberflächen und ihrer Ausstattung räumlich nicht als Originale erlebbar. Was wir in Weimar und Dessau also sehen können, sind durch den Gebrauch veränderte Räume oder museale Teilrekonstruktionen. Wir sind auf ergänzende Dokumente angewiesen, um eine umfassendere Vorstellung der ursprünglichen Bauhaus- Räume zu gewinnen und können ein Raumverständnis erst entwickeln, wenn wir sie in Bezug zur gesellschaftspolitisch begründeten Wohnpraxis setzen.
Historische Fotografien des Bauhauses geben dessen Räume in Schwarz-Weiß und nur vereinzelt auch in Farbe bildhaft wieder; aus Textdokumenten erhalten wir weitere Informationen zu verwendeten Farben und Mustern, die sich aus den vorhandenen Fotos nicht erschließen. Aus den verschiedenen Fragmenten und Indizien lassen sich Rückschlüsse ziehen und Rekonstruktionen versuchen. Die Rekonstruktion der verschwundenen Situationen fügt sich fallweise zu einem Raumbild, das allerdings kein gelebter Raum ist. Es bleibt ein Bild. Dieses Bild erzeugen wir heute, indem wir die heterogenen Informationen miteinander in Beziehung setzen und durch unsere Fragen zu Antworten machen. Wir akzeptieren die Distanz dieses Raumversuchs zum Original und sehen gegenüber dem historischen Dokument zugleich den Vorteil der subjektiven Aneignung aus einer Perspektive, die wir autonom bestimmen. Wir blicken als Künstler auf die Bauhaus-Räume: Statt einer historischen Dokumentation oder einer musealen Präsentation von Fragmenten zeigen wir eine Serie von Bildpaaren, die jeweils eine konkrete Raumfrage durch zwei gegensätzliche Bilder vorstellt. Die Bildpaare verbinden sich zu einer Ausstellungsinstallation, in der die Bauhaus-Räume die demonstrative Form der Meisterhäuser und Musterwohnungen verlassen.
Die offene Form des Raumversuchs ermöglicht uns einen anderen Zugriff auf den Bauhaus-Wohnraum. Tapetenstrukturen, Muster, Ornamente und materialintensive Oberflächen können den abstrakteren Schwarz-Weiß-Fotografien entlang einer gezielten Recherche zugeordnet werden. Es entstehen neue Bilder, die unsere Vorstellung der Bauhaus-Räume durch eine andere Perspektive aktualisieren und die Erfahrbarkeit der Bauhaus-Wohnräume testen. Sie leiten sich aus Fotografien ab, sind selbst aber keine; ebenso wenig sind es fotorealistische Bilder. Sie nähern sich den in ihnen dargestellten Wohnungen ähnlich der Malerei an: Sie führen Räume vor Augen.
Time is more clearly evident in architecture for housing than for public buildings: such architecture changes as a result of being used by changing occupants; by means of appropriation and wear, the original condition of a flat becomes a fiction. Housing was at the heart of Bauhaus architecture. Despite being familiar with the Bauhaus’s living spaces, we do not truly know them. The idea of preserving spaces in the style of a museum also runs counter to the Bauhaus’s goal of changing the lives of as many people as possible. Although the originals still exist, the Bauhaus show-houses cannot be experienced in three dimensions, as originals, in view of physical changes to their surfaces and appointments. What we can see in Weimar and Dessau, then, are spaces or partial museum-style reconstructions that have changed as a result of use. We must rely on accompanying documents to gain a comprehensive notion of the original Bauhaus spaces, and can only develop an understanding of them by seeing them in relation to socio-politically established housing practice.
Historical photographs of the Bauhaus depict its spaces in black-and-white and only rarely in colour; from text documents we can glean further information about the colours and patterns not revealed by the photographs available. With the aid of various fragments and circumstantial evidence we can draw conclusions and attempt reconstructions. The reconstruction of the defunct situations can be pieced together on a case-by-case basis to form a three-dimensional image which is, however, not a living space. It remains an image. We create this image today by relating the heterogeneous pieces of information to each other and turning them into answers by asking our questions. We accept the distance of this spatial experiment from the original and recognize the advantage, compared with the historical document, of subjective appropriation from a perspective that we determine autonomously. We view the Bauhaus spaces as artists: instead of a historical documentation or museified presentation of fragments, we present a series of photographic pairs posing a specific question about space by means of two contrasting images. The image pairs unite to create an exhibition installation in which the Bauhaus spaces leave the demonstrative form of master houses and show-flats.
The open form of the spatial experiment allows us to approach the Bauhaus living space from a different angle. Wallpaper structures, patterns, ornaments and material-heavy surfaces can be assigned to the more abstract black-and-white photographs based on selective research. This creates new images that update our idea of the Bauhaus spaces by means of a different perspective and test the possibility of experiencing the Bauhaus living spaces. Although derived from photographs, they are not photographs; nor are they photorealistic images. They approach the flats depicted in them in a manner similar to painting: they present spaces.